So viele Grüntöne wie Geschichten

In Orion und Umgebung gibt es ein Grün, das ich so noch nirgendwo sonst gesehen habe. Es ist ein sattes, tiefes, leuchtendes Grün, mit dem die Wiesen und Bäume das Schloss in ein eigenes Licht tauchen. Es ist eine Mischung aus unzähligen Grüntönen, denn jedes Blatt, jeder Baum und jeder Grashalm scheint seine eigene Version von Grün zu erzählen. So viele Grüntöne wie Geschichten – das ist vielleicht der beste Weg, um zu beschreiben, was ich im Château d’Orion erlebt habe.

Vielleicht liegt es an der klaren Luft zwischen Pyrenäen und Atlantik, vielleicht an der Sonne, die in Orion besonders stark zu strahlen scheint oder vielleicht liegt es auch an der Ruhe, die der Ort ausstrahlt. Für mich ist sicher: Das Schloss und seine satten Grüntöne sind einzigartig.

Allerdings ist es gut möglich, dass dieses Grün, das für mich das schönste ist, für jemand anderen ganz anders aussieht. Und damit sind wir mitten im Thema der ersten Denkwoche dieses Jahres, an der ich teilnehmen durfte: Wahn oder Wirklichkeit – von der Herausforderung, sich auf eine gemeinsame Realität zu einigen, geleitet von Prof. Dr. Philipp Sterzer. Wie sich herausstellte ist das, was wir sehen, was wir fühlen und was wir glauben bei Weitem nicht so objektiv, wie wir es gerne hätten. Und wenn schon Fakten irgendwie subjektiv sind, wie sollen wir uns dann auf Werte oder Überzeugungen einigen?

Die Antwort, die wir im Schloss gefunden haben, ist verblüffend einfach – und zugleich anspruchsvoll: Wir fragen. Wir hören zu. Wir erzählen. Ich durfte feststellen, dass das Château ein sehr geeigneter Ort dafür ist, denn es ist eine Welt aus Geschichten, Gastfreundschaft und gemeinsamer Neugier. 

Obwohl man schon auch typische Praktikantenaufgaben übernimmt (sich ein Social Media Konzept ausdenken, zu Spitzenzeiten auch mal gefühlte 20 Mal am Tag den Geschirrspüler ein- und ausräumen oder Tee kochen und den Tisch decken), ist ein Praktikum im Château d‘Orion kein gewöhnliches Praktikum.

Erstens mischt sich die Arbeit mit einem Konzept, was man vielleicht Wohngemeinschaft oder Gastfamilie nennen könnte, und bei dem man sehr schnell sehr viel über seine Gastgeber lernt. Dabei ist auch immer genug Zeit, die wunderschöne Gegend zu erkunden - zum Beispiel wenn man in Sauveterre Schwimmen geht. Zweitens herrscht im Schloss eine Kultur der Offenheit, bei der man fast alle Aufgaben übernehmen kann, die man möchte - es muss ohnehin jeder ein bisschen von allem machen. Eine ähnliche Offenheit findet man auch bei den Gästen, die teilweise schon oft im Château d‘Orion eingekehrt sind, trotzdem aber immer offen für neue Ideen sind - und auch gerne ihre Lebensweisheiten an uns weitergeben. An dieses außergewöhnliche Praktikum werde ich noch lange zurückdenken!

Joëlle Nies

Tobias Premauer